„Future Structures“
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Tag für Tag schießen die Wissenschaftler der Steuerungszentrale in einem ringförmigen Röhrensystem Protonen und Neutronen mit ungeheuerer Beschleunigung und Energie aufeinander zu, damit diese dann kollidieren und neue Objekte erzeugen.
In der Nacht kommt der Large Hadron Collider des Forschungszentrums zur Ruhe und die Netflix KI zeigt in den Wohnzimmern der Einfamilienhäuser, wieder und immer wieder eine Wissenschaftlerin, die, mit der Waffe im Anschlag, in die „Zone“ eindringt, über welche sich ein extraterrestrischer, alles Leben transformierender Schimmer gelegt und in einen phantasmagorischen unheimlichen Anti-Garten Eden verwandelt hat.
Ist es ein Zufall, wenn sowohl ein quantenphysikalisches Experiment, als auch ein Blockbuster den gleichen Namen tragen? Die „Anhiliation“ der Physiker und die „Auslöschung“ des Films erzeugen dabei jeweils einen anderen, neuen Zustand.
Dass sowohl in der Teilchenphysik, als auch im Genre des fantastischen Films oder der Literatur die Gesetzmäßigkeiten der wahrnehmbaren Welt aufgehoben sind, sich sogar verschränken können, erscheint uns im rationalistischen Kapitalismus westlicher Prägung eine Angelegenheit für Nerds und Cosplayer.
Tatsächlich aber sind Zeit, Raum und sowieso unsere Wahrnehmung einer fortlaufenden Transformation unterworfen. Dieser schwankende Boden einer fragmentierten und fragwürdigen Wirklichkeit prägt im Besonderen das Bewusstsein der russischen Gesellschaft seit Jahrhunderten und speist als steter Strom dissidenter, phantastischer und utopischer Ideen und Modelle Literatur, Wissenschaft und Politik.
Inna Artemovas Arbeiten sind geprägt von diesem Erfahrungsraum. Die Gemälde ähneln in ihrem Aufbau Sequenzen eines Storyboards oder Filmstills, in denen sich phantastische Szenarien ausbreiten. Die dargestellten Menschen, Objekte und Architekturen verharren in einem eigentümlich verwirrenden Schwebezustand, als sei die Ordnung von Raum, Zeit und Gravitation ausgesetzt.
In ihrer Ausstellung „Future Structures“ führt sie mit einer Serie monochromatischer Gemälde dieses Vertigo fort. Architektonische Strukturen schweben über einer Ebene, ihre einzelnen Elemente haben in einer Art Zellteilung immer wieder neue Strukturen aus sich hervorgebracht. In der nächsten „Szene“ beugen sich Forscherinnen über die Miniatur dieser metabolischen Struktur. Ein zerborstenes Ei ist über dem Horizont erschienen. Wissenschaftler öffnen ein kugelförmiges Objekt aus dem wiederum Kugeln, Strahlen und konstruktivistischen Gegenstände entweichen. Eine Phalanx aus Streben flankiert einen breiten Pfad, der sich zu einem lichten Horizont hin öffnet, auf den sich einzelne Figuren hinzubewegen scheinen.
Die Zeit scheint in den Bildern angehalten. Befinden wir uns auf einer Reise in eine utopische Zukunft oder betrachten wir die zerborstenen Überreste einer gescheiterten Zivilisation?
Inna Artemova bedient sich der Beschreibung einer Realität an der Grenze zur Fantasik, schwankend zwischen utopischen und dystopischen Weltentwürfen, um die tiefgreifenden transformatorischen Ereignisse, die die (post-) sowjetische Gesellschaft erfahren hat und deren Auswirkungen noch heute sichtbar sind, zu kommentieren.
Eingebunden in einen sowohl architektonischen und cinematografischen Resonanzraum rufen ihre Arbeiten Motive aus Andrej Tarkowskis Film „Stalker“ auf, dessen Vorlage die Brüder Strugatzki mit ihrem fantastischen Romans „Frühstück am Wegesrand“ lieferten. Auch zeitgenössische Erzählungen dystopischer Welten in „Metro 2033“ von Dmitri Gluchowski oder „Kys“ von Tatjana Tolstoi verweben sich als Echo in den Werken.
„Future Structures“ wird somit zu einer metaphysischen Reise ans Ende der Gewissheit über unsere Vorstellung von der Ordnung der Welt
Stephan Gripp
„ Landscapes of Tomorrow“,
Kyrgyz National Museum of Fine Arts, Bishkek, Kirgisistan